kulturelle Diagrammatik [text]

:: autor : thesenpapier : 0511

Jenseits einer (lohnenden) positiven Wissenschaftsgeschichte, die das Diagramm fixiert (auf prototypisch Schaltdiagramme, geometrische Diagramme, etc.) – um dann mit dieser Definition ‘vergleichend’ vorzugehen – ist das Konzept des Diagramms kulturtheoretisch v.a. als metaphorisches und programmatisches Konzept interessant. Ganz allgemein kann das (kulturelle) Diagramm etwa verstanden werden “als Abstract, das die Vielfältigkeit von Richtungen und Ortsveränderungen ermöglicht, die für einen Weltblick charakteristisch ist, der auf eine kontinuierliche oder fragmentierte Ebene geworfen wird, und zwar mit all seinen Maßstabsvariationen.” (Buci-Glucksmann)


(i): Yolngu bilder; von Howard Morphy, Charles Taylor



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ERSTE VERORTUNG


1) Diagramme als besondere Klasse von augmentation means.

Mich interessiert das Diagramm im Zusammenhang mit einer Theorie der “augmentierten Kultur”. Diese Perspektive versteht – grob gesagt – den Menschen als körperlichen Akteur, welcher durch Artefakte (augmentation means) und Archetypen synthetisch erweitert wird, während er gleichzeitig in gegenständlicher/intentionaler Differenz zu ihnen steht. Augmentation means sind solche Artefakte, die im Zusammenhang mit anderen Artefakten (einem “set of interacting components” wie Methoden, Sprachen, Praktiken Technologien) den Menschen “helfen ihre nativen sensorischen, mentalen und motorischen Fähigkeiten anzuwenden” und diese dabei auf nicht-lineare, synthetische Weise erweitern ( – im Sinne “regenerativer Interaktion” und eines “feed-forward”-Effekts). Aus dieser Perspektive ergäbe sich auch, dass das Diagramm und seine Logik, trotz seiner Spezifiken, im Zusammenspiel eines Ensembles kultureller Artefaktklassen zu verstehen ist.

2) diagrammatische Artefakte

Diagrammatische Artefakte sind solche, die – gegenüber anderen ’sprachlichen’ eindeutig fixierten Systemen und Inventaren (Alphabet, Lexikon, etc.) – eine offene, aber in sich systematische topologische und grammatische Symbolisierung anlegen und diese beiden Aspekte integrieren. Dabei importiert ein diagrammatisches Artefakt vorhandene Repräsentationslogiken, transkribiert andere in den neuen diagrammatischen Kontext und führt zusätzlich intuitive ad-hoc Symbolisierungen ein, die jedoch durch die Anbindung an vorhandene kognitive Orientierungssysteme (kulturelle, physiologische,…) möglichst stark motiviert (also ‘intuitiv’) bleiben. Diagramme unterstehen den Zwecken und Kontexten lokaler Handlungs und Verstehensprozesse, sind bezogen auf eine kognitive Domäne, und stellen eine jeweilige diagrammatische Teil-»Welt« dar, für die sie spezifische abstrakte Gegenständlichkeiten angeben.

3) kulturelle Diagramme

Diagrammatische Artefakte können in verschiedenen Domänen der praktischen Kultur gefunden werden; neben technischen Diagrammen, logistischen Diagrammen. Tafeln (?) gibt es kulturelle Diagramme, die explizit oder implizit nicht-formalisierte kulturelle Symbol- und Orientierungssysteme beinhalten.
Letzlich läßt sich jedes Diagramm in seiner jeweils angesetzten kognitiven Grammatik auch als kulturelles Diagramm verstehen. Kulturelle Diagramme totalisieren symbolisch-anschaulich bestimmte praxologische bzw. kognitive Räume (kulturelle, soziale, technische symbolische…) und Beschreiben den Referenzraum als diagrammatische Domäne (mitsamt einer Ontologie, einer Logik, elementarer Konzepte etc.).
Wo die diagrammatischen Elemente und Vektoren schematisiert aber nicht formalisiert sind bleiben kulturelle Diagramme offen für neue Anschlüsse, Übertragungen und Erweiterungen. Kulturelle Diagramme sind durch ihren Anschluß an lebensweltliche, symbolische und kulturelle Logiken offene Diagramme – und wie Karten imer auch als sozial-kulturelle Interfaces zu verstehen. Eine vielleicht aufschlußreiche Frage: gibt es ironische, selbst-reflexive Diagramme?!? Verweisen also bestimmte Diagramme auf die offene und hybride Art ihrer Repräsentation?

WEITERE BESTIMMUNG

4) kognitive Diagrammatik


Diagramme sind angeschlossen bzw. schließen an an Strukturierungslogiken kognitiver Räume (mental spaces/idealized cognitive models), die durch die Logik des Linearen und des Alphabetischen (also des Textes) nicht abgedeckt werden können und kombinieren symbolische und nicht- symbolische Kognitionsebenen. Diagramme sind ?Zeichnungen von kognitiven Räumen?, und wie diese bestimmt als blended spaces, also als Ãœberlagerung verschiedenartig abstrakter Symbol und Grammatik-Räume. Sie greifen sowohl auf bereits konventionell inventarisierte, wie auf intuitiv motivierbare Symbolisierungen zurück und fügen leicht erschließbare ad-hoc Symbolisierungen mit ein (Jedes typische Diagramm hat eine eigene Syntaktik und Pragmatik). Die lokale Systematik (im Rahmen eines “Behauptungsblatts”), die diagrammatische Topologie (Ordnungen, Ordinanzen und Orientierungen), sowie die Eigenschaft der kognitiven Anschaulichkeit (für einen einzelnen Interpretanten), zeichnen sie gegenüber anderen nicht-textlichen Formen der Repräsentation aus. Konsequenz: Dabei veschlüsseln kulturelle Diagramme verschiedene, heterogene Teil-Rationalitäten– sie integrieren verschiedene ?Logik?-Domänen und Ebenen in eine lokale diagrammatische Logik. Vermutung: die Charakterisierung von Diagrammen ist identisch mit der Erklärung ihrer besonderen kognitiven Anschaulichkeit. Vermutung: diese beruht auf einer besonderen Form der Verdichtung (-> “epistemische Komprimierungsformate”), die nicht maximal, sondern optimal gestaltet ist. Sie schließt in relativ optimaler Weise an die abrufbaren idealized cognitive models an, die im Zusammenhang mit den praktischen, symbolischen, kulturellen, technischen, (…) Domänen stehen, welche für den diagrammatischen Referenten relevant bzw. wesentlich sind. Orientierung: es ist vielleicht eine gute Arbeitshypothese Diagramme als möglichst operativ adäquate, kognitive Repräsenationen von Infrastrukturen verschiedenster Art zu verstehen. 5) spezifische Zeichenprozesse des Diagramms - es scheint methodisch wenig fruchtbar “das Diagramm” lediglich mit anderen, vermeintlich natürlichen Repräsentationsformaten (“das Bild”, “das Wort”) zu vergleichen; vielmehr steht wohl eine Beschreibung diagrammatischer Repräsentation im Lichte einer vorhandenen oder zu entwerfenden Zeichentheorie an. — Etwa die Charakterisierung der diagrammatischen Variante der Peirce’schen Zeichenstruktur Rhema: Einzelausdruck/Satzfunktion (Logik) Dicent: atomarer Satz Argument: komplexer Gedankengang – etwa in der Form: Diagramme sind operative Argumentmaschinen (ein Reservoir nicht gänzlich frei variierbarer Argumente), Diagramm-Elemente sind Rhemata, die allerdings weniger Alphabetisch als ikonisch und symbolisch verfaßt sind,; einzelne, operativ relevante Sub-Segmente/Ausschnitte aus Diagrammen sind Dicente, die aber eher der Logik von image-schemas oder Prozessbildern folgen als einer Form der textlicher Propositionalität)
- Diagramme scheinen als topologische Bilder mit einer besonders artikulierten Form der Ebenenkombination zu arbeiten. Sie bilden sich aus Kombination wohldefinierter, wenn auch symbolischer Ebenen, deren Trennung durch eine diagrammatische Überblendung unscharf werden. Diese diagrammatische Ebenenunschärfe (oder Amalgamierung veschiedener Symbolräume) trägt gerade zur optimierenden Verdichtung bei. - Diagramme sind nicht als reine Übersetzungen oder Verdichtungen anderer Repräsentationsformate zu begreifen; alle Diagrammetypen führen neue elementare Konzeptionen (Gegenstände, Relationslogiken, Symbolverhältnisse) ein - Diagramme scheinen v.a. auf der Ebene der Zeichnung unsinnlicher Ähnlichkeit (Benjamin) zu beruhen, wobei sie gegenüber anderen Bildern in einer Überblendung ikonischer und sprachlicher Aspekte zu einer dia-grammatischen Darstellung neigen. Überlegung: Um der spezifischen Signifikations- und Repräsentationslogik der Diagramme auf die Spur zu kommen, ist vielleicht die Frage zu beantworten. welche Art von Abstraktion und Präzision Diagramme mit sich bringen?! Diese Frage ist besonders dann (bzw. nur dann) interessant, wenn man Diagramme nicht als reine Abbildungen versteht und ihre spezifische Präzision gegenüber ihrem Gegenstandsraum als teil-reprizokes Verhältnis versteht.

6) spezifische Logiken des Diagramms


– 6a) Kombination und Schematisierung abstrakter Positionalitäten

Diagramme stellen grammatische Topologien und Infrastrukturen dar und können dabei verschiedene Symbolisierungsformen, -ebenen und –domänen kombinieren. Das vielleicht plausibelste Prinzip, das die unterschiedlichen Aspekte im Diagramm vermittelt ist eine Logik von verschiedenartigen Positionalitäten. Dies umfasst sowohl die operative und die repräsentational vorausgesetzte Position der diagrammatischen Akteure, wie auch das in-Relation-setzen verschiedener mehr oder weniger konkreter bzw. abstrakter Positionssysteme der verschiedenen Repräsentationssysteme, sowie zuletzt ein projeziertes Referenzuniversum, dass sich im Diagramm v.a. in charakteristischen Positionalitäten bestimmt (-> multidimensionale Navigation)

– 6b) Diagramme als operabele kognitive ‘Bilder’

Diagramme stehen für die Generierung dynamischer Interaktionsräume auf der Grundfläche relativ fest kodierter Territorien. Diese Kodierung kann allerdings ebenso formal, wie (in unterschiedlichen Graden) kognitiv motiviert sein.
Diagramme stellen einen Spielraum sowohl eine orientierende und grammatisch verfaßte Orientierung sowie ein Repertoir kleinster Verarbeitungs- und Ãœbersetzungsschritte bezogen auf eine praktische oder kulturelle Domäne zur Verfügung, Umfang und Ebenen-Komplexität können variieren, solange sie sich in ein Behauptungsblatt integrieren lassen (->”Codierung auf einer Fläche”) und die inhärente Grammatikalität des Diagramms wahren. Operabilität/Operativität ist kommt dabei im Sinne einer wie auch immer systematisierten Praxis (etwa als diagramm-intrinsiche Verrichtung, Positionierung oder Ableitung) ins Spiel und ist nicht notwendig bestimmt durch eindeutige Regeln, Verrechnungsvorgänge, technische Determinismen, etc.. Kulturelles Quellwissen, motivierte/motivierbare Topologien, symbolische Ableitungen u.a. spielen für diese Operativität bei kulturellen Diagrammen ebenso eine Rolle. Interessant ist die ‘kognitive Grammatik’ von kulturellen Diagrammen, die eben dort ins Spiel kommt, wo sich keine eindeutige, explizite Syntaktik vorliegt oder feststellbar ist, weil jedes Diagramm eine virtuelle/inhärente Grammatik anlegt. (angelehnt an vorhandene Grammatiken)

> Terme/Begriffe, die es im Angesicht einer Charakterisierung von Diagrammen entlang dieser Skizze weiter auszuarbeiten/genauer zue bestimmen gälte: Sprache | Grammatik, grammatische Symbolizität | Positionierung | kognitive/kulturelle Domäne (-> Wissenszusammenhang) | kognitive Anschaulichkeit | Behauptungsblatt | Schema(tisierung)