»McLuhan, Pasteur des Medienzeitalters« [text]

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»McLuhan, Pasteur des Medienzeitalters. Kausalität als Ansteckung – Zur Diagnose der (elektrischen) Medienkultur«

– In: ‘Ansteckung – zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips’. Schaub, M./Suthor, N. (Hg.). Wilhelm Fink. München. 2004 (S. 51-76)

McLuhan, Pasteur des Medienzeitalters – Kausalität als Ansteckung – Zur Diagnose der (elektrischen) Medienkultur

1. McLuhan revisited: Medientheorie als Beschreibung lebendiger Wechselwirkungen

Ich bin in der gleichen Situation wie Louis Pasteur, der den Ärzten sagt, daß ihr größter Feind vollkommen unsichtbar ist und sie ihn überhaupt nicht erkannt haben.

“The Medium is the Message” – mit diesem nur scheinbar eindeutigen Diktum hat Marshall McLuhan in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts der Medientheorie das bis heute gültige Credo mit auf den Weg gegeben. Seit dem gelten Medien nicht mehr nur als ‚Vermittler‘ und ‚Träger von etwas‘, als Sekundärphänomene gegenüber den eigentlichen, von ihnen ‚transportierten‘ Inhalten. Vielmehr werden in Folge dieses medientheoretischen Gründungsrufes die durch Medien selbst initiierten Struktur- und Bedeutungsräume zum Gegenstand der Aufmerksamkeit. Während viele Überlegungen McLuhans, die sich seinerzeit an der medialen ‚Explosion‘ der Moderne entzündeten, mittlerweile in weiten Teilen der Kultur- und Medientheorie zum festen Inventar theoretischer Grundüberzeugungen geworden sind, stellen andere Teile der Arbeit des kanadischen Literaturwissenschaftlers aber immer noch eine ‚Terra incognita‘ für die Medientheorie dar.

Dies trifft insbesondere auf jene Texte und Textteile zu, welche eine nicht-technikreduktive, nicht-mechanistische Medientheorie nahelegen und dabei auf eine methodische Revision von Theoriebildung selbst abzielen, um eine Reflexivität zu sichern, welche die Theorie transparent bleiben läßt für den Hintergrund ihrer eigenen medial-gesellschaftlichen Bedingungen. All dies sind bekanntermaßen Aspekte, welche die aktuelle Medientheorie mittlerweile im Zeichen der cultural studies, der Diskurskritik oder der science and technology studies nachzuliefern sucht.

Das in unserem Kontext interessante Metaphernfeld ‚Ansteckung‘, ‚Streß‘, ‚Krankheit‘ fällt in diese Bannzone, die innerhalb der akademischen McLuhan-Rezeption konstatiert werden muß. Dabei spricht McLuhan an vielen Stellen sehr deutlich von der Mensch-Medien-Interaktion und der medialen ‚Erweiterung‘ des Menschen als einem medizinisch zu behandelnden, der Ansteckung gleichenden Phänomen:

Physiologisch gesehen gibt es Gründe genug für eine Ausweitung unserer selbst, die uns in einen Zustand der Betäubung versetzen. Forscher auf dem Gebiete der Medizin wie Hans Selye und Adolphe Jonas sind der Ansicht, daß alle Ausweitungen unserer selbst, sowohl im gesunden wie im kranken Zustand, Versuche darstellen, das innere Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Jede Ausweitung unserer eigenen Person betrachten sie als [gleichzeitige; Anm. O. L. S.] ‚Selbstamputation‘ und glauben, daß der Körper zu dieser Methode oder diesem Mittel der Selbstamputation greift, wenn das Wahrnehmungsvermögen den Grund der Reizung nicht genau feststellen oder sie umgehen kann. (UM, 75)


Das Schweigen der Medientheorie im Hinblick auf solche und andere Passagen zum Themenfeld ist nicht nur im Hinblick auf eine theoriemethodische Verarmung McLuhans bedauerlich, sondern auch in einer weiteren Perspektive. Es verhindert eine aufgeklärte Rekonstruktion und Prüfung der konzeptuellen Vorstellungen der anthropologischen Schemata, die McLuhan vorschlägt, und steht der Anerkennung der offensichtlichen Tatsache im Weg, daß seine Konzeption bereits in den 60er Jahren nicht so weit entfernt war vom aktuellen framing medientheoretischer Fragen als einer dynamischen und rückbezüglichen Mensch-Medien-Interaktion.

Während noch einige KommentatorInnen die von McLuhan im Zusammenhang mit der medialen Interaktion in Anschlag gebrachten Begriffe ‚Autoamputation‘ bzw. ‚Betäubung‘ aufgreifen (und damit die drastischsten anthropologischen Bestimmungen McLuhans hervorheben), schwindet das Interesse im Zusammenhang mit unspektakulärer erscheinenden Begriffs- und Themenmarkern wie ‚Krankheit‘, ‚Streß‘ oder ‚Schock‘. Das liegt an einer eigentümlichen Zweiteilung in der akademischen McLuhan-Fortschreibung: Sind diese Begriffe innerhalb einer in Überbietungsfiguren denkenden Medientheorie zu harmlos (vgl. etwa Jean Baudrillard), erscheinen sie einer analytisch ausgerichteten Medientheorie angesichts formalisierter und linearisierter Rationalitätsvorstellungen insgesamt als nicht operationalisierbar.

McLuhans Großprojekt bestand insgesamt in einer Untersuchung der “Grenzen unserer in den Techniken ausgeweiteten Menschennatur” (UM, 18) sowie der Bedingungen ihrer Wiederaneignung. Die Aussonderung oder Ausblendung weiter Teile seiner Theorie-Motivik sowie sein Labeling als Technikdeterminist muß als eine zwielichtige Anomalie angesehen werden, welche durch eine schizophrene Wahrnehmung seiner Arbeit innerhalb der Medientheorie motiviert ist. So wird gegenüber/mit McLuhan einerseits konzediert, daß Modelle der linear-kausalen, eindeutigen und determinierenden Verursachung die Realität und Komplexität medialer Prozesse und Kulturen nicht erfassen. Doch gleichzeitig wird den oft blumig und luftig erscheinenden Theoriemosaiken McLuhans, seinen “kanonischen Anti-Texten” (Yoshua Meyrowitz), angelastet, ohne ‚wissenschaftlich‘ akzeptables Modell von Kausalität (und das heißt auch ‚Erklärung‘) zu arbeiten. Sofern seine Arbeiten nicht in eskalatorische Überhöhungsrhetoriken postmoderner Medientheorie aufgesogen werden, wird McLuhan in der Folge im Rahmen seiner akademischen Eingemeindung meist von seinem ‚irrationalen Teil‘ ‚befreit‘. Seine fragwürdig systematisierte Theorie wird dabei letztendlich – Ironie der Theoriegeschichte – mit der Berufung auf eine aus seinen Texten herauspräparierte ‚prothetische Anthropologie‘ durch Bestimmungen charakterisiert, die genau jene Logik mechanisch-linearer Wirkungszusammenhänge voraussetzen – Determinismus, Prothetik, Instrumentalismus –, welche er mit seinem theoretischen Neuansatz besonders intensiv und nachhaltig kritisieren wollte. Die Auslesung seiner Texte im Sinne einer mechanistischen-deterministischen ‚Prothesen‘-Theorie, welche oft in einer tragik-komischen Verwechslungsgeschichte zum Angriffspunkt einer McLuhan letztlich karikierenden Kritik wird, bekommt dabei andere dominante Figuren seines diagnostischen Projektes – Medien als Rohstoffe, als Veräußerungen, als Archetypen, als Götzen, als Metaphern, als Umwelten, als Intensivierungen und Extensivierungen, als Brücken, Speicher etc. – gar nicht in den Blick.

Vorausgesetzt wird in dieser ‚Kritik‘ eben jenes Denken, daß McLuhan programmatisch angriff. So wendet er sich beispielsweise in Hinsicht auf die Bestimmung von Medien gegen die Verabsolutierung der Metapher des Transports, wie auch die Verallgemeinerung des Modells technischer Informationsübertragung und kritisiert die Perpetuierung eines Kausaldenkens, das wesentlich der mechanischen Episteme des “Gutenbergschen Zeitalters” entstammt. McLuhan wendet sich mit seinem ganzen Denken gegen eine sequentielle oder syntaktische Analyse von atomaren ‚Eigenschaften‘ und tieferliegenden determinierenden ‚Ursachen‘, wie sie sich aus einer Orientierung an der (vermeintlich) sequentiellen Logik der linearen Schriftsprache und mechanisierter Prozeß ergibt. Diese Logik linearer Verursachung und Folgeverhältnisse entspricht wesentlich einer vergangenen gesellschaftlichen Epoche bzw. ihrer dominanten Organisations- und Interaktionslogiken.

Seine Beschreibungen arbeiten demgegenüber, wie einige Autoren richtigerweise bemerkt haben, trotz ihrer Rahmung in einer Art ‚erweiterte Anthropologie‘ vielmehr mit der “Diskontinuität als Grundprinzip”. In den Eingangsbemerkungen zu Understanding Media begründet McLuhan die Notwendigkeit eines gänzlich neuen Theorieeinsatzes im Zeichen der Mediengesellschaft gerade mit der Eigenheit von Medien sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie etwas anderes tun, “als sich dem bereits Vorhandenen anzuschließen” (UM, 27). Auch aus diesem Grund hat McLuhan zu keinem Zeitpunkt das Meta-Konzept der Extension auf ein einfaches Bild der prothetischen Verlängerung oder Externalisierung reduziert.

McLuhan versteht das “Zeitalter der Elektrizität” (UM, 521) und seine über multiple Medien organisierte multiconsciousness als Hervorbringung einer “complexity which is philosophical breakdown” (CA, 152). Deswegen setzt er gegenüber “dem linearen Modell von Ursache und Wirkung” als “der einzigen sequentiellen Form kausalen Denkens in der abendländischen Philosophie” auf ein alternatives, nicht-lineares Modell von “Resonanz zwischen Figur und Grund” (GG, 110) mit einem “Wechselspiel von Ebenen und Ursachen” und der übergreifenden Figur des ‚Intervalls‘. Zudem betont er mit Vokabeln wie ‚Implosion‘, ‚Schock‘, ‚Inversion‘ – welche Anhängern der linearen Logik der Buchkultur bis heute suspekt bleiben – nicht nur wesentliche Eigenheiten von medialer Wirksamkeit sondern auch – und auf einer übergeordneten Beschreibungsebene – einen strukturellen und epistemischen Bruch, wie ihn das kybernetische Zeitalter gegenüber dem der mechanischen Industrie und seiner Ordnungslogik hinsichtlich gesellschaftlicher Interaktionsformen und kognitiver Aneignungsmuster darstellt.

Unter den Bedingungen der modernen, elektrischen Gesellschaft wird den Menschen erstmals deutlich, daß Bedingungsgefüge aller Art aus “variablen Bedingungen” bestehen, die sich in einer ganz allgemein zu verstehenden Weise immer “auf die besondere Lage zweier oder mehrerer Körper” beziehen (UM, 522). All dies kann auch im Sinne einer ‚neuen Organizität‘ bzw. der organischen Qualität der elektrischen Gesellschaft gesehen werden, die durch immer dichtere Felder der Wechselwirkung und eine ‚massenhafte Gleichzeitigkeit‘ gekennzeichnet ist (welche bei Walter Benjamin bereits als ‚Zerstreuung‘ angesprochen ist). Strukturähnlich zur Realität des menschlichen Körpers, welcher sich gerade für die Medizin in seiner inneren Komplexität zeigt, stellt sich die industrialisierte, elektrifizierte und vernetzte Gesellschaft deutlicher als vorhergehende Gesellschaften in ihrem Wirkungsgefüge als “organische Einheit von ineinandergreifenden Abläufen” (UM, 523) dar.

Mit diesen Charakterisierungen markiert McLuhan im Angesicht der Ubiquität neuer, vervielfältigter und beschleunigter Medienformen den Einsatz einer neuen Form von Theoriebildung. Wesentlicher Teil seines kulturtheoretischen Renovierungsunternehmens ist daher die Implementierung eines konstruktiven Gegenmodells von ‚Verursachung‘ und ‚Wirkung‘, mit dem er eine historisch überkommene und in die Kausalitätsmodelle eingeschriebene Grammatik der “mechanisch-schematischen Reihung von Handlungen [und Wirkungen] in linearer Abfolge”(UM, 524) ablösen will. Eine seit Aristoteles tradierte Auffassung von Verursachung hätte nämlich, so der Denker der medialen Moderne, “keinen Bezug zu den unmittelbaren Auswirkungen von Simultaneität, Diskontinuität und Schwingung oder Resonanz, welche für die individuelle [wie auch für die kollektive; Anm. O. L. S.] Erfahrung in einer elektronischen Kultur typisch sind.”(GG, 110) Und diesen ‚Indikationen‘ über gegenwärtige Mediengesellschaften entspricht bei McLuhan ein modernisierter Existentialismus, sofern dieser “eher eine Philosophie der Strukturen als der Kategorien und des totalen gesellschaftlichen Einbezogenseins anstatt der individuellen Isolierung oder der Standpunkte” (UM, 83) annimmt. McLuhans Bedeutung ist dabei aber nur auf den ersten Blick beschränkt auf das Projekt der adäquaten Beschreibung gegenwärtiger (Erfahrungs-)Realitäten der “elektronischen Kultur”. Vielmehr stellt McLuhan in grundsätzlicher Weise die Vorstellung von ‚Kausalität‘, genauer die medienhistorische Realität verschiedener Kausalitätsformen sowie die Angemessenheit verschiedener Modelle von Verursachung – zur Diskussion; und zielt damit letztlich auf den gesamten Gestus von Theoriebildung in der Gegenwart.

Gegenüber einem Denken in mechanisch-linearen Verursachungsketten lassen sich Phänomene der dynamischen Interaktion und Rückbezüglichkeit offensichtlich besser mit den Erklärungsmodellen der organischen Wissenschaften erfassen. Der Chemiker Ilya Prigogine schreibt:

Während ‚nichtlineare‘ Reaktionen, deren Effekt in einer Rückkoppelung auf die Ursache zurückwirkt, in der anorganischen Welt verhältnismäßig selten sind, hat die Molekularbiologie entdeckt, daß sie bei lebenden Systemen praktisch die Regel sind.


Spezifischer noch als in der Molekularbiologie zeigen sich komplexe Interaktionsmuster aber im biologischen Modell über Ansteckungsprozesse. So war es gerade Louis Pasteurs Leistung, wie ein Biograph des französischen Mikrobiologen herausstellte, zu zeigen, daß

infectious diseases […] are complex phenomena involving, in addition to the infective microorganisms, the physiological state of the patient, the climate and the environment, the social structure of the community, and countless other unsuspected factors.


Mit einer methodischen Einstellung, die sich in der Folge an eben solchen lebendigen, komplexen und vielschichtigen Wechselwirkungen orientiert, besteht McLuhan darauf, daß die mediale Struktur als ein konstituierender Teil der menschlichen Umwelt in komplexer Weise seine ‚medien-ökologische Situation‘ bestimmt.

“Ich bin in der gleichen Situation wie Louis Pasteur, der den Ärzten sagt, daß ihr größter Feind vollkommen unsichtbar ist und sie ihn überhaupt nicht erkannt haben”(UM, 29). Mit diesem Ausruf will McLuhan in den Eröffnungszügen von Understanding Media sowohl die allgemeine Bedeutung einer sich von den funktionalistischen Medienwissenschaften seiner Zeit lösenden Medientheorie, wie auch Charakter und Inhalt seiner eigenen Position markieren. McLuhan selbst vergleicht seine Medientheorie dabei mit den Anfängen der Bakteriologie, der Wissenschaft nicht-sichtbarer, subliminaler Ansteckungsprozesse. Der Bezug auf Pasteur und die Bakteriologie deutet dabei eine offensive, (‚anti-‘)methodische Diskurs-Über-Querung an, welche den Graben zwischen den Wissenschaftskulturen – hard sciences vs. humanities – lange vor den heutigen transdisziplinären Anstrengungen zu den Akten legt. McLuhan beschreibt das Verhältnis zwischen Mensch und Medium in Anlehnung an die Systematik latenter Ansteckungsprozesse zwischen organischen und (quasi-)organischen Körpern als ein Modell der lebendigen und transformativen Wechsel-Wirkung zwischen heterogenen Agenten.

Er reiht sich damit ein in die bis in die Gegenwart reichende Linie einer Theoriebildung, welche sich über die diskursiven Modelle der Immunologie an die Realitäten und Logiken ihres Gegenstandes herantastet. Diese Forschungstendenz versucht den Begriff der Kommunikation unter anderem anhand der Modelle der Ansteckung und der Paradigmen des körperlichen Immunsystems zu diskutieren. Michel Serres, Francisco Varela und Donna Haraway etwa versuchen – ungeachtet vieler Differenzen – Kommunikation nicht nur im Sinne propositionaler, symbolischer oder daten-technischer Transfers (oder sinnverwandter Modelle) zu diskutieren, sondern Kommunikationsprozesse mit dem Dispositiv körperlicher Interaktion (welche sich einer bewußt-intentionalen Einflußnahme entziehen), und im Zusammenhang mit heterogen strukturierten Milieus zu verstehen.

Arthur Kroker ist insgesamt als einer der wenigen zu nennen, der dieser Dimension des McLuhanschen Denkens systematische Aufmerksamkeit schenkt, und dessen Theorie ein “medizinisches Verständnis von Technologie” attestiert: “It was McLuhan’s special insight […], to recognize the deep relationship between the history of technological innovation and the theory of disease.”

Die Körperlichkeit des Menschen sowie Artefaktstrukturen verschiedener Ordnungen bilden dabei für McLuhan im Rahmen einer Ökologie kultureller Infrastrukturen die zentralen Referenzpunkte für die Beschreibung medialer Wirkungsfelder. In dem im selben Jahr wie Understanding Media erschienenen Aufsatz “Der Inhalt der Umwelt – Bemerkungen zu Burroughs” wird in anderem Zusammenhang mehr als deutlich, daß McLuhan Ansteckung aus seiner eigenen medientheoretischen Perspektive mit der Logik menschlicher Artefaktgebräuche überblenden will. ‚Erklärungen‘ im Sinne eines Aufweises von überzeitlichen, den untersuchten Konstellationen entzogenen Bedingungen werden dabei abgelöst durch eine der medizinischen Anamnese entlehnte ‚Kulturdiagnostik‘, die sich auf eine Charakterisierung verschiedener Wirkungskomplexe konzentriert. Die Bedeutung der bislang vernachlässigten Teile des McLuhanschen Corpus liegt genau in diesem die Einzeldisziplinen übergreifenden und verschiedene Diskurse integrierenden Gestus, welcher die herkömmlichen Ordnungs- und Begriffsprinzipien der bis heute in linearen Kausalmodellen denkenden “pneumatischen” Geistes- und Kulturwissenschaft (Ludwig Pfeiffer) torpediert.

Anmerkungen:
1 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, 2. erw. Aufl., Du.sseldorf u. Wien, 1995 (1964), S. 29. Fortan zit. als UM. Zitatverweise auf diesen Text von nun an fortlaufend im Beitrag.2 Etwa jene u.ber die (relative) Ablösung der Buchkultur, die zunehmende Vernetzung der globalen Kommunikation oder die progressive Erweiterung und zunehmende Bedeutung von medialen Informationsumgebungen. Fu.r eine genauere, auch kritische Bilanz s. Nick Stevenson, „Marshall McLuhan and the Cultural Medium – Space, Time and Implosion in the Global Village“, in: Understanding Media Cultures. Social Theory and Mass Communication, London, Thousand Oaks u. New Delhi, 1995; David Skinner, „McLuhan’s World and Ours“, Quellenstandort online: http://www.thepublicinterest.com/archives/ 2000winter/article3.html; vgl. auch Levinson, der die Theorie McLuhans für das Zeitalter von Internet und Cyberspace fortschreiben will. Paul Levinson, Digital McLuhan: A Guide to the Information Millenium, New York, 1999.

3 Norbert Bolz spricht hiervon in Ansätzen, beschränkt sich dabei aber mit der Fokussierung des „neuropsychologischen Paradigmas“ weitgehend auf eine subtile Variante der linear gedachten Organextension, die sich auf die Bedeutung und das Bild des Nervensystems und seiner Externalisierung beschränkt. Vgl. Norbert Bolz, „Your inside is out and your outside is in – die mythische Welt der elektronischen Medien“, in: Mediendämmerung. Zur Archäologie der Medien, hg. v. Peter Klier, Berlin, 1989, S. 81-89, hier S. 82.

4 Siehe für den deutschen Diskursraum etwa Manfred Faßler, „Makromedien“, in: Geschichte der Medien, hg. v. dems. u. Wulf Robert Halbach, Mu.nchen, 1998, S. 309-359; oder Annette Keck u. Nicolas Pethes, „Das Bild des Menschen in den Medien. Einleitende Bemerkungen zu einer Medienanthropologie“, in: Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, hg. v. dens., Bielefeld, 2001, S. 9-29, hier S. 13 f.
sein

5 Vor diesem Hintergrund erklären Theoretiker wie Fiedler McLuhan als „two-thirds an absolutely fascinating analyst of society and culture and one-third mad“. Vgl. Mark Dery, „Marshall McLuhan: The Medium’s Messenger“, Quellenstandort online: http://www.levity.com/markdery/ESCAPE/VELOCITY/ author/mcluhan.html. In einer positiven Wendung spiegelt sich diese sonst meist untergru.ndig implizierte Idee etwa bei Ludes wieder: „McLuhans Argumentation geht nicht davon aus, daß wir Ursache- Wirkungs-Beziehungen erkennen könnten.“ Peter Ludes, Medieninterpretationen – Herbert Marshall McLuhan, Berlin, 1998, S. 77.

6 Hierzu finden sich unzählige Stellen; etwa UM, 66 u. 524. 7 Kittler etwa sieht mit McLuhan die „landläufige“ Überzeugung der Medientheorie inauguriert, daß der Mensch sich in seinen Medien prosthetisch externalisiere. Kittler behauptet gegenu.ber dieser Konstruktion McLuhans dann, daß die „Medienwirklichkeit“ demgegenu.ber „tatsächlich“ nicht linear und nicht instrumentell verlaufe, sondern „eskalatorisch und strategisch“. Kittler stellt dem mechanisierten ‚McLuhan‘ dann das Konzept der Mediengeschichte als einer „militärischen Ausdifferenzierung“ entgegen – und usurpiert damit McLuhan gegen ‚McLuhan‘: jener widmete mit War and Peace in the Global Village 1968 genau diesem u.a. „eskalatorischen“ Zusammenhang ein ganzes Buch. Vgl. Friedrich Kittler, „Synergie von Mensch und Maschine. Gespräch mit Florian Rötzer“, in: Kunstforum international 98 (1989) (= Ästhetik des Immateriellen), S. 117-119.

8 Vgl. UM, 42, 80 u. 210; Marshall McLuhan u. Wilfred Watson, From Cliché to Archetype, New York, 1971, S. 320. Fortan zit. als CA. Zitatverweise auf diesen Text von nun an fortlaufend im Beitrag. Marshall McLuhan, „Das resonierende Intervall“, in: absolute Marshall McLuhan, hg. v. Martin Baltes, Rainer Höltschl u. Philip Marchand, Freiburg, 2002 (1989), S. 210-218, hier S. 211. Fortan zit. als RI. Zitat verweise auf diesen Text von nun an fortlaufend im Beitrag. Marshall McLuhan, „Der Inhalt der Umwelt – Bemerkungen zu Burroughs“, in: ebd. S. 184. Fortan zit. als IdU. Zitatverweise auf diesen Text von nun an fortlaufend im Beitrag.

9 S. v. a. das Kap. „Straßen und Nachrichtenwege“, in: UM, 141-166, in dem McLuhan die Bedeutung dieser Metapher in einen mediengeschichtlichen bzw. infrastrukturellen Kontext setzt.

10 „Jede Form von Transport befördert nicht nur, sondern Überträgt und verändert den Absender, den Empfänger und die Botschaft.“ UM, 142.

11 Fu.r McLuhan bildet die „Gutenberg-Galaxis“ – praktisch wie epistemologisch – die Verschränkungsform eines gleichzeitig alphabetisch, mechanisch, visuell und hierarchisch-arbeitsteiligen ausgerichteten Zeitalters. Hierzu gehört die Ideologie eines situativ enthobenen, objektiv gültigen „Standpunktes“ im vielfachen Sinne des Begriffs. Dem gegenüber steht die „elektrische Kultur“ mit ihren informationellen Mustern, resonierenden Feldern und audio-taktilen Raum-Zeit-Ordnungen. S. hierzu v. a. Marshall McLuhan, Die Gutenberg Galaxis, Bonn u. a.., 1995 (1962). Fortan zit. als GG. Zitatverweise auf diesen Text von nun an fortlaufend im Beitrag. S. auch das Kapitel „Die Automation“, in: UM.

12 Vgl. etwa ebd., S. 89.

13 Die vorherrschende Eingenommenheit von technizistischen Medientheorien mit Fragen der Informationsu.bertragung, -speicherung und -verarbeitung sowie mit Fragen der Codierung und Transcodierung sowie die anhaltend starke Stellung systemtheoretischer Modelle (mit ihren ‚Kopplungen‘ und ‚Elementen‘) und Operationsmechaniken kann in diesem Zusammenhang wohl als Transposition mechanischer Kausal- und Wirkungsmodelle in das neue Erfahrungsmilieu der elektronischen Moderne gesehen werden.

14 Agentur Bilwet, „Probing McLuhan“, in: dies., Medien-Archiv, Bensheim u. Du.sseldorf, 1993, S. 229- 237, hier S. 229; in anderem Zusammenhang: K. Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a. M., 1999, S. 51.

15 Diese Darstellung eines mechanisierten ‚McLuhan‘ gibt Kittler (Anm. 7), S. 115; aber auch die ansonsten differenzierter vorgehenden Keck u. Pethes (Anm. 4), S. 13; beide lesen McLuhan – ganz linear – als „implizite“ Extension von Kapps Technikphilosophie aus dem 19. Jahrhundert.

16 Marshall McLuhan u. Bruce Powers, „Verborgene Wirkungen“, in: The Global Village. Der Weg in die Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts, Paderborn, 1995 (1989), S. 103-114, hier S. 113. Fortan zit. als VW. Zitatverweise auf diesen Text von nun an fortlaufend im Beitrag.

17 McLuhan wollte theoriemethodisch Theorien des „Zusammenhangs“ durch eine „Kunst des Intervalls“ ersetzen; diese versteht er als „die Kunstform der instantanen elektronischen Kultur.“ IdU, 187

18 So schreibt McLuhan: „Ein gutes Beispiel fu.r diese technologische Blindheit bei Innis selbst“, also dem Lehrer McLuhans, „war sein Fehler, Radio und elektronische Technologie als eine weitere Ausdehnung der Muster der mechanischen Technologie zu betrachten.“ Marshall McLuhan, „Medien- und Kulturwandel“, in: absolute Marshall McLuhan (Anm. 8.) S. 107-111, hier S. 111.

19 Ilya Prigogine u. Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur, Mu.nchen, 1990, S. 161.

20 René Dubos, Louis Pasteur – Free Lance of Science, New York, 1986, S. 172.

21 So redet McLuhan u. a. von einer „mechanischen Umwelt“, einer „industriellen Umwelt“. IdU, 184 f.

22 McLuhans ‚Medien-Ökologie‘ ist keine kulturkonservative ‚Medienhygiene‘ sie beruht vielmehr in ihrer Fokussierung der technisch-medialen Infrastruktur als Umwelt auf einer generalisierten Bestimmung von Umwelt „[as] that accustomed, unnoticed set of conditions which give limits an organism´s world at any given moment“. Howard Gossage, „You can see why the mighty would be curious“, in: McLuhan: Hot & Cool, hg. v. Gerald E. Stearn, New York, 1967, S. 3-14, hier S. 9.

23 Vgl. den Artikel von Susan Sontag in der Streitschrift McLuhan: Hot & Cool und ihre Darstellung einer experimentell angelegten „new sensibility“. Susan Sontag, „The Basic Unit of Contemporary Art“, in: McLuhan: Hot & Cool, (Anm. 22), S. 252-265.

24 Vgl. Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a. M., 1987; Francisco Varela, „Immunsystem und der Prozeß der Körperindividuierung“, in: Materialität der Kommunikation. hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M., 1988; Donna Haraway, „Die Biopolitik postmoderner Körper“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur, Frankfurt a. M., 1995.

25 Eine weitere Ausnahme in diesem speziellen Zusammenhang ist der Film- und Literaturtheoretiker Bukatman. Er weist auf den diskursiven Zusammenhang des Ansteckungsmotivs bei McLuhan mit einer hin zum Viralen verschobenen Metaphorik bei Baudrillard und den ästhetischen Reflektions- und Imaginationsräumen des „Cyberpunk“ (insbes. bei William S. Burroughs und David Cronenberg) hin. Vgl. Scott Bukatman, Terminal Identity. The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction. Durham, 1993.

26 Nach Kroker ist McLuhan „the Canadian thinker who undertook a phenomenology of anxiety, or more precisely a historically relative study of the sources of anxiety and stress in technological society“ und Kroker hebt explizit McLuhans „medical understanding of technology“ hervor „[which] lit up the darkness surrounding the invisible environment of the forms of technology.“ Arthur Kroker, Technology and the Canadian Mind: Innis/McLuhan/Grant, New York, 1984. Das hier relevante Kap. „Digital Humanism: The Processed World of Marshall McLuhan“ findet sich als Internet-Ressource unter: http://www.ctheory.com/article/a028.html (1995). Aus dieser wird im folgenden zitiert (ohne Seitenangaben).

27 Vgl. hierzu Oliver Lerone Schultz, „Marshall McLuhan – Medien als Infrastrukturen und Archetypen“, in: Alice Lagaay u. David Lauer, Medientheorien. Eine philosophische Einfu.hrung, Frankfurt a. M. u. New York, 2004, S. 31-67.

28 Hier verteidigt er Burroughs, „dessen Welt das Paradigma einer Zukunft ist, in der es keine Zuschauer mehr geben kann, nur mehr Teilnehmer“ und gegen eine Charakterisierung, die Burroughs nur als „gescheiterte Science-Fiction“ lesen kann. IdU, 187.

29 „Einer Maschine oder einer Kopie unseres Körpers oder unserer Fähigkeiten gegenüberzustehen, heisst bereits, an sie angeschlossen zu werden. Die Gewichtung unserer Sinnesorgane verändert sich mit einem Schlag bei jeder Begegnung mit einer fragmentierten Ausweitung unseres Wesens. Diese pausenlos dahinrasende Innovation kann man nicht endlos ertragen.“ Ebd., S. 188.

30 McLuhan schwebte als Zugang zu einer Meta-Theorie eher die Synthese von 20 sehr verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen vor, wie er in einem Brief an Ezra Pound schrieb. Vgl. Marshall McLuhan, Letters of Marshall McLuhan, Toronto, 1985.

31 Zur historischen Bedeutung sowie Auflösung des mechanischen Paradigmas in der naturwissenschaftlichen Weltanschauung vgl. Karl von Meyenn, Triumph und Krise der Mechanik. Ein Lesebuch zur Geschichte der Physik, München u. Zürich, 1990.

2. Eine Umwelt voller Schnittstellen – Medienökologie und Körper(lichkeit)

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