Katalysatoren politischer Vorstellungskraft : Max Haiven (Edufactory) zu Occupy Wallstreet [text]

:: interview | erschienen in Kulturrisse Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik 04/2011

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Katalysatoren politischer Vorstellungskraft. Ein Interview zur Occupy-Bewegung mit Max Haiven.

Mitte September 2011 besetzten ein paar Hundert Demonstranten unter dem Slogan „Occupy Wall Street!“ den Zuccotti Park in Lower Manhattan und benannten ihn in „Liberty Square“ um. Damit war der Startschuss für die sogenannte Occupy-Bewegung gefallen, welche zu einem bestimmenden Thema öffentlicher Debatten im letzten Drittel des Jahres 2011 werden sollte. Oliver Lerone Schultz traf am 17. Oktober 2011 am Rande der – mittlerweile geräumten – Occupy-Wallstreet-Besetzung in New York City den Theoretiker und Aktivisten Max Haiven vom Edufactory-Kollektiv, um sich mit ihm über die Geschichte, Bedeutung und Perspektiven der Bewegung zu unterhalten.

Oliver Lerone Schultz :: Kulturrisse: Welchen Zugang hast du zur Occupy-Bewegung?

Max Haiven: Ich habe sie sehr aufmerksam verfolgt und bin jetzt erst seit einer Woche hier, aber es ist sehr aufregend. Im letzten Monat gab es einige Skepsis, glaube ich, in der Linken. Aber insbesondere seit den Ereignissen um den 15. Oktober, mit dem großen Marsch zum Time Square und der Ausweitung der Besetzungen in viele andere Städte, sind alle viel optimistischer geworden und „zugestiegen“.

Du kommst ja ursprünglich aus Halifax: Inwieweit wirkt die Bewegung auch nach Kanada?

Es gibt auf einer grundlegenden Ebene Resonanz: Ich glaube, die Leute in Kanada sind extrem ermuntert und ermutigt, wenn sie den Umfang und die Stärke der Solidarität hier in New York sehen. Im Zusammenhang mit dem 15. Oktober begannen in den meisten der großen kanadischen Städte auch Besetzungen, inklusive Halifax, wo eine Besetzung des zentralen Platzes der Stadt stattfindet. Das fokussiert sowohl globale Fragen als auch lokalen Themen, konzentriert sich aber vor allem auf das Ungleichgewicht der Einkommen und die Allgegenwart und -mächtigkeit von Verschuldung sowie auf die allgemeinen ökonomischen Bedingungen, denen sich die Leute gegenüber sehen.

Die erste Anti-Globalisierungsbewegung war ja auch recht stark in Kanada. Wie würdest du im Allgemeinen diese Bewegung einordnen mit Blick auf die Trajektorie „Seattle 1999 – 9/11 – Occupy! – 2011 hier und heute“?

Damals, als vor zehn Jahren die Globalisierungsbewegungen losgingen, war es wie auch bei den Occupy-Bewegungen: Es gab viele Spekulationen darüber, was sie Neues darstellen. Das war damals aus meiner Sicht etwas problematisch. Es gab ja bereits viele andere Bewegungen. Es gab neue Linke Bewegungen in den 1960ern und -70ern, die für verschiedene Dinge eintraten. Aber eine dieser Bewegungen, die wirklich die Anti-Globalisierungsprojekte nachhaltig beeinflusste und die oft vernachlässigt wird, ist die starke feministische Bewegung. Daher kommen viele der Ideen um konsensuelle Entscheidungsräume, nicht-hierarchische Organisationsformen und auch diese Art des „mitfühlenden Antikapitalismus“ [compassionate anti-capitalism]. Das wurde alles von den Feministinnen entwickelt, aber auch von der Queer-Bewegung und der antirassistischen Bewegung in Nordamerika. Diese Bewegungen – samt der Umweltbewegung – speisen sich eigentlich in die Anti-Globalisierungs-Bewegung ein. Das wurde nach 2001 alles etwas abgeschnitten, kurz nach 9/11 – und es gab eine Art Übergang vieler Aktivisten in die Friedensbewegungen.
Was, glaube ich, in den zehn Jahren zwischen damals und heute passierte ist, ist, dass die Friedensbewegung sich der Erfahrung stellen musste, gegen die Betonmauern einer sich vollkommen gleichgültig gebenden Machtelite anzulaufen. Ich meine, wir haben die größten Demonstrationen in der menschlichen Geschichte erlebt, und selbst diese konnten die Invasion des Irak nicht verhindern. Wir waren Zeugen eines Totalversagens der Mainstream-Medien, die es unterließen, akkurat und fair über diese Themen zu berichten. Was wir eigentlich hier auf dem Liberty Square sehen, ist eine Generation, die aufgewachsen ist und zusehen musste, wie sie von einer öffentlichen Institution nach der anderen ausverkauft wurde. Das erklärt auch weitgehend, was hier stattfindet: Es ist keine Bewegung, die mit Forderungen auftritt, etwa, dass – ehemals – öffentliche Institutionen dies oder das für sie tun sollten. Es ist wirklich eine Bewegung, die von Grund auf etwas Neues aufbauen will. Und das ist aus meiner Sicht das Spannendste daran.

Du bist auch Teil des Edufactory-Kollektivs. Was ist eure politische Einstellung, Analyse und Aussage im Zusammenhang mit dieser Bewegung?

Ich denke, was das hier repräsentiert, ist eine Revolte derer, die wir das „Cognitariat“ nennen, was nichts anderes ist als eine neue Form der ausgebeuteten Massen im Zeitalter von Masseninformationen und Massenkommunikation. Ich meine, wir leben in einer Zeit, in der viele der jungen Leute hier durch die Universitäten gegangen sind und jetzt keine sinnvolle Arbeit finden. Heute graduieren die Leute mit einer Ausgangsbürde von mehreren 10.000 Dollar an Bildungskrediten und haben das Gefühl, für den Rest ihrer Zukunft nie wieder in einer Position kreativer Gestaltungsmacht sein zu können. Ist es also verwunderlich, wenn sie sich nicht nur die Straße nehmen, sondern versuchen, diese in einen Raum zu verwandeln, in dem ihre überschüssige Kreativität, ihre überschüssigen Bindungsenergien und ihre überschüssigen Sozialitätsbedürfnisse gedeihen können – und in dem sie neue Dinge gemeinsam entwickeln und erfinden können?
Wie es sich aus der Edufactory-Perspektive darstellt, ist es, denke ich, das: Was wir sehen, ist ein Zustand, in dem der kognitive Kapitalismus nicht länger die Energien kanalisieren kann, die in dem Verlangen der Leute bestehen, wirkliche Verbindungen eingehen, wirkliche Alternativen schaffen und wirkliche, sinnvolle Ideen umsetzen zu können – jenseits von etwas, das jemand anderem Geld einbringt.
Wir stehen hier an einer gesellschaftlich interessanten Kreuzung: hinter uns auf der einen Seite „Liberty Square“ und die „Generalversammlung“ von Occupy Wallstreet – und in Blickweite die Baustelle zum Wiederaufbau des neuen World Trade Centers, mit allem, wofür es steht: angefangen von 9/11 bis zu den ganzen politischen Symboliken dieses Neubaus …
Ich denke, beides sind phänomenale Mega-Projekte der menschlichen Vorstellungskraft. Und man braucht nur einen Blick darauf zu werfen, wie sie gebaut werden, um zu sehen, dass hier zwei verschiedene Paradigmen ins Werk gesetzt werden. Das Gebäude hinter uns [World Trade Center] ist eine überragende Struktur, es ist eine gewaltige Koordinationsarbeit. Tausende und Abertausende von menschlichen Leben werden orchestriert, um so etwas wie diese Türme zu bauen. Das umfasst die Arbeit von Leuten, die in Afrika Mineralien schürfen; von anderen in China, die diese in Produkte raffinieren; von weiteren, die sie als Waren von China hierher verschiffen oder über Land transportieren. Dann sind ganz verschiedene Leute beteiligt, von papierlosen Wanderarbeitern über Gewerkschaftsfunktionären bis hin zu Architekten. Sie alle kooperieren auf eine bestimmte Weise, um diese riesigen Türme zu errichten, welche dann Teil des zentralen Nervensystems des globalen Finanzsystems sein werden, das selbst wiederum einen gewaltigen Akt einer bestimmten Orchestrierung der menschlichen Imagination darstellt. Aber: Das ist alles eine hierarchische, kapitalistische Form der Koordination von menschlicher Zusammenarbeit und Imagination. Es ist Top-Down, und es wird durch Geld vermittelt. Und vor allem: Es wird koordiniert mit dem Ziel einer weiteren Geld- und Kapitalakkumulation.
Wenn du indessen zum Zuccotti Parc gehst, siehst du ein anderes Mega-Projekt mi Tausenden und Tausenden Menschen aus dem ganzen Land und aus aller Welt. Sie kommen zusammen und entscheiden demokratisch, was sie tun wollen, sprechen demokratisch über die Zukunft und bauen an einer Bewegung, die diese Art von Dingen ermöglichen kann.
Man muss also verstehen, dass beides majestätische und sublime Ausdrucksformen der menschlichen Kreativität sind. Es wird aber zu einer Frage der Politiken. Und ich glaube, die Frage des Politischen im kognitiven Kapitalismus ist die Frage danach, welches Modell es werden wird: das Modell, das riesige Türme errichtet – oder das Modell, das große Bewegungen steuern wird.

Wie siehst du die strategische Bedeutung und die Perspektiven dieser Bewegung?

Nun, ich glaube vor allen Dingen, dass es extrem aufregend ist. Und es ist eine erste Bruchstelle im Weltgebäude des kognitiven Kapitalismus. Es ist der Beweis, dass die Menschen einen Unterschied machen können und werden. Das ist wichtig, wenn alle Hoffnung verloren schien. Man muss sehen, dass es noch vor einem Monat so aussah, als würde die Tea-Party-Bewegung die US-amerikanische Imagination besetzen und kontrollieren –, und dann hat sich das hier irgendwie aus dem Nichts materialisiert und die Größenverhältnisse wieder zu Recht gerückt. Es ist also zuallererst und vor allem ein Bruch in der politischen Vorstellungskraft, und es ist ein lebendiges Denkmal für die radikale Imagination. Trotzdem gilt gleichwohl auch: Es wird scheitern müssen. Ich bezweifle ganz sicher, dass Occupy Wallstreet und andere Occupy-Bewegungen dazu in der Lage sein werden, sich in Bewegungen zu verwandeln, die in irgendeiner Form nach der Macht greifen können oder auch nur die Machtverhältnisse ernsthaft in konkreter Weise anrühren. Nichtsdestotrotz muss gesagt werden: Es zwingt uns, unsere Ideen davon zu überdenken, was wir als Erfolg oder Misserfolg ansehen.
Weißt du, es ist wie das, was Karl Marx über die Pariser Kommune sagte: Ihr größter Erfolg ist, dass sie faktisch existiert, einen Katalysator für die Vorstellungskraft bereitgestellt hat.
Und selbst wenn dieses Occupy Wallstreet sich wohl nicht in eine anhaltende politische Organisation oder gar Partei verwandeln oder zu einem konkreten Forderungskatalog führen wird, so wird es doch eine Reihe von Bewegungen verschiedenster Art entzünden. Einige davon werden radikale anti-kapitalistische Bewegungen sein und einige Flügel der Demokratischen Partei, einige werden Bewegungen für eine persönlich-individuelle Emanzipation sein und einige freundschaftliche Zusammenhänge [afinity groups] von ganz neuer Art und Konstellation mit ganz neuen Gruppen, die dabei involviert sind. Es wird die nächste politische Generation gebären. Und ich denke, das ist ein Erfolg. Auch wenn die Bewegung selbst unter diesem Namen und in dieser Form nicht auf ewig Bestand haben wird, weil sie das natürlich so nicht kann.

Max Haiven lehrt am Nova Scotia College of Art and Design in Halifax, Kanada und ist gegenwärtig Post-Doktorand an der New York University (NYU)>. Er ist außerdem Mitglied im Kollektiv Edufactory>, einem internationalen Zusammenschluss gegen die Ökonomisierung der Universitäten.